JURISTISCHE GRENZFÄLLE

Zur Abgrenzung der Tötung auf Verlangen von strafloser Suizidbeihilfe

RA Christian Koller

RA Christian Koller

In einer aufsehenerregenden Entscheidung sprach der 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Frau vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen frei, die ihrem Ehemann auf dessen Wunsch hin eine tödliche Dosis Insulin injizierte. Dabei spielten die gesamten Umstände eine wichtige Rolle, weshalb nachfolgend der Sachverhalt ausführlich dargelegt wird.

Sachverhalt

Die Angeklagte, eine ehemalige Krankenschwester, betreute ihren Ehemann seit dem Jahr 2016. Er hatte seit 1993 ein schweres chronisches Schmerzsyndrom entwickelt, war krankheitsbedingt berufsunfähig und in Rente. Er litt zudem unter zahlreichen Erkrankungen. Seine Schmerzen nahmen im Jahr 2019 weiter zu und sein Zustand verschlechterte sich stetig, sodass er erwog, die Dienste eines Sterbehilfevereins in Anspruch zu nehmen. Nahezu wöchentlich äußerte er seinen Wunsch, sterben zu wollen. Er bat die Angeklagte darauf hin, ihn ein paar Tage nicht zu pflegen und wegzufahren, damit er sich mit Tabletten das Leben nehmen könne. Seine Ehefrau weigerte sich jedoch.

Am 7. August 2019 litt der Ehemann an schwersten Schmerzen und hatte seit Tagen keinen Stuhlgang gehabt. Kurz nach 15 Uhr versuchte die Angeklagte, ihn aus dem Pflegebett aufzurichten und auf den Nachtstuhl zu setzen, was ihr jedoch nicht gelang. Seine Rückenschmerzen waren so stark, dass er laut aufschrie. Erst nachdem sie ihm auf seine Bitte vier schnellwirkende, hochdosierte Schmerztabletten (Hydromorphon 25 mg akut) gegeben hatte, gelang es ihr gegen 17 Uhr, ihn auf den Nachtstuhl zu setzen; er hatte jedoch nach wie vor keinen Stuhlgang.

Als sie anschließend zusammen Kaffee tranken und er zwei Zigaretten rauchte, sagte er: „Heute machen wir’s“. Der Angeklagten war klar, dass er damit meinte, seinem Leben an diesem Tag ein Ende setzen zu wollen. Im weiteren Verlauf des Abends äußerte er, die Schmerzen nicht mehr auszuhalten und an diesem Tag "gehen" zu wollen. Er sprach mit ihr über die gemeinsamen Ehejahre und sagte, dass er sie nicht gern allein lasse, aber trotzdem heute "gehen" müsse. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war ihr bewusst, dass der Sterbewunsch ihres Mannes ernst war.

Der Ehemann forderte nun die Angeklagte gegen 23 Uhr auf, ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben. Sie fragte ihn, ob er keinen Abschiedsbrief schreiben wolle, weil sonst "noch alle denken" würden, dass sie ihn umgebracht habe. Er hielt dies zunächst nicht für nötig, schrieb dann aber mit zitternden Händen in ein Notizbuch, dass er unter den großen Schmerzen nicht weiterleben wolle, seiner Frau verboten habe, einen Arzt einzuschalten, und hoffe, dass sein Tablettenvorrat ausreiche, um von seinen großen Schmerzen erlöst zu werden. Anschließend trug die Angeklagte seinem Wunsch entsprechend alle verfügbaren Medikamente zusammen, brach die Tabletten (ca. zehn Tabletten Hydromorphon 25 mg akut und 15 Diazepam-Tabletten) aus den Verpackungen und gab ihm diese in die Hand. Sie schüttete den Inhalt einer noch fast vollen 50 ml-Flasche Prothazin in ein Wasserglas und reichte es ihm. Er nahm alle Tabletten selbständig ein und schluckte sie mit dem Inhalt des Trinkglases hinunter.

Nun forderte er die Angeklagte auf, alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen. Er legte sich hin und rauchte. Die Angeklagte holte sechs schnell wirkende Insulinspritzen mit jeweils 100 Einheiten. Ihr war bewusst, dass sie ihrem Mann nunmehr entsprechend der üblichen Handhabung die sechs Insulinspritzen in die Bauchdecke injizieren sollte, was sie auch tat. Sie wusste, dass die Insulingabe geeignet war, seinen Tod herbeizuführen.

Nachdem sie ihm die Insulinspritzen verabreicht hatte, fragte der Ehemann die Angeklagte, ob dies auch alle vorrätigen Spritzen gewesen seien, „nicht, dass er noch als Zombie“ zurückkehre, und bat sie, ihm die Urinflasche anzulegen. Sie bejahte seine Frage und legte ihm die Urinflasche an. Ihm fiel es nun zunehmend schwer, seine letzte Zigarette sicher in der Hand zu halten, weshalb die Angeklagte ihm diese aus der Hand nahm. Er fuhr sich noch einmal mit der Hand über den Kopf und schlief ein. Die Angeklagte vergewisserte sich immer wieder, ob er noch atme, und stellte schließlich gegen 3:30 Uhr seinen Tod fest. Einen Arzt informierte sie aufgrund der mit ihrem Ehemann getroffenen Absprache nicht. Der Ehemann starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Die anfangs mittels der Tabletten eingenommenen Wirkstoffe waren ebenfalls geeignet, seinen Tod herbeizuführen, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt.

Erstinstanzliche Entscheidung

Das Landgericht ging zunächst von einem Töten auf Verlangen aus (§ 216 Abs. 1 StGB) und verurteilte die Angeklagte zu einem Jahr auf Bewährung. 

Die Angeklagte habe nicht nur straflose Beihilfe zum Suizid geleistet. Sie habe ihrem Ehemann aktiv handelnd die Insulinspritzen gesetzt. Obwohl er bei vollem Bewusstsein gewesen sei, habe er nicht bis zum Eintritt des Todes die Möglichkeit gehabt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Als sie ihm das Insulin injiziert habe, habe er sich bereits entschlossen, ihre auf seinen Tod hinzielende Handlung duldend hinzunehmen, und dies auch getan. Denn er habe nicht gewusst, ob und wann die Insulingabe tödliche Wirkung haben und bis wann es ihm möglich sein werde, sich dieser tödlichen Wirkung zu entziehen, was der Angeklagten bewusst gewesen sei. Er habe mithin sein Leben in ihre Hand gelegt.

BGH verwirft Verurteilung

Der BGH hat mit Beschluss vom 28.06.2022 - 6 StR 68/21 die Verurteilung aufgehoben und festgestellt, dass die Angeklagte keine Tötung auf Verlangen beging. Dabei definierten die Bundesrichter die Grenze zwischen der strafbaren Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zur Selbsttötung unter normativer Betrachtung völlig neu.

Hintergrund war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB. Danach leitet sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch die grundrechtlich geschützte Freiheit ab, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung dieser Selbsttötung auch auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen.

Der BGH sah vorliegend eine vergleichbare Konstellation. Auch hier war die Möglichkeit des Sterbewilligen, auf die Unterstützung Dritter zurückzugreifen, durch die Strafandrohung des § 216 StGB beschränkt. Deshalb sei § 216 Abs. 1 StGB verfassungskonform auszulegen. Es seien jedenfalls die Fälle vom Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen. Dies sei der Fall, wenn sie darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt.

Für den vorliegenden Fall war dabei entscheidend, wer die Tatherrschaft innehatte. Dies ist nicht allein nach einer naturalistischen Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln zu bestimmen. Vielmehr ist eine normativ wertende Betrachtung des Gesamtgeschehens geboten. So kam der BGH im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, der unbedingte Sterbewille des Ehemanns habe das Geschehen überlagert. Die zusätzliche Insulin-Injektion sei Teil des einheitlichen, maßgeblich vom Ehemann selbstbestimmten Gesamtakts zur Lebensbeendigung gewesen.

Fazit

Die Entscheidung zeigt, dass das Thema Sterbehilfe und würdevolles Sterben nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit Paragraphen nur schwer in Griff zu bekommen ist. Der BGH stellte deshalb nicht nur auf die reinen Handlungen der beteiligten Personen ab, sondern bewertete diese in einem zweiten Schritt, um zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis zu gelangen. So kam er in diesem Einzelfall zu dem Ergebnis, dass nicht die Angeklagte, sondern nach wie vor der Ehemann die Tatherrschaft inne hatte.

Auch wenn die Entscheidung die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen nicht obsolet macht, stärkt sie den Wunsch Sterbewilliger und schützt gleichzeitig Personen, die dem Sterbewilligen dabei assistieren.                                                         

Strafgesetzbuch (StGB) § 216 Tötung auf Verlangen

(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(2) Der Versuch ist strafbar.


Rechtsanwalt Christian Koller
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